Harbach historisch – Geschichte(n) rund um das Dorf

Harbach historisch – Geschichte(n) rund um das Dorf

heute: Die „gruß‘ Fichte hinn‘r Raue-Haus“

Liebe Leser, beim Kramen in unserer virtuellen Mottenkiste sind uns heute zwei Fotos in die Hände gefallen, die von 1936 bzw. aus der Mitte der 1950er Jahre stammen. Sie zeigen jeweils eine Gesamtansicht des Dorfes und offenbaren so die typische Silhouette Harbachs in ihrer jeweiligen Zeit. Wir sehen die Bauten des Ortes und die malerisch am Nordrand auf einem Hügel befindlich Kirche. 

Auf beiden Bildern fällt dem aufmerksamen Betrachter allerdings auch ein riesiger Nadelbaum auf, der das charakteristische Dorfbild unseres Ortes offensichtlich über Jahrzehnte prägte. Es war dies die „gruß‘ Fichte hinn’r Raue-Haus“.

In unserem Kulturkreis haben die Menschen seit jeher eine besondere Beziehung zu großen und schönen Bäumen und so wollen wir uns heute einmal dieser Fichte zuwenden.

Lehrer Karl Söhngen (1902-1978), der hier im Dorf in den 1930er Jahren seinen Dienst versah und mit seiner Familie in der Wohnung der Schule, unmittelbar neben dem „Raue-Haus“ in der Kirchgasse lebte, fertigte vor dem Krieg eine kleine Notiz zu dem Baum, der auch ihn offensichtlich besonders imponierte:

Hinter der Hofreite stand in früheren Zeiten häufig eine Fichte. Sie sollte dem Gehöft Schutz verleihen gegen Blitzschlag, Hagel und Dämonen. Entgegen dem Mahnwort: Vor den Fichten sollst Du flüchten, siedelte sich der Bauer gern in der Nähe der Fichten an oder pflanzte sie innerhalb seines Hausgrundstückes als Schutzzeichen.

Eine solche Schutzfichte befindet sich z.B. noch hinter der Scheune des Landwirts Ludwig Schäfer 2. („Raue“) in der Kirchgasse. Sie ist eine Zierde dieses Dorfteils und bleibt hoffentlich noch recht lange der Nachwelt erhalten. Ein volles Jahrzehnt hatte ich Gelegenheit, mich an dem stattlichen Baum zu erfreuen, der sich gerade gegenüber dem Schulhaus in seinen himmelanstrebenden Wachstum erhebt. Es war einst für mich ein zuverlässiger Wetterprophet. Das Rauschen seiner grünen Wipfel lullte meine Kinder in den Schlaf und erhöhte in mir an stürmischen Wintertagen das Gefühl der Geborgenheit und häuslicher Behaglichkeit.

Manche dieser Schutzfichten fiel im Laufe der letzten Jahrzehnte der Axt zum Opfer. Hoffentlich bleibt wenigstens „Schäfers Fichte“ den Harbachern erhalten und wandert bei der gegenwärtigen Holzknappheit nicht in den Ofen. Mag sie auch weiterhin der Wächter des kleinen Dorfes sein und die heranwachsenden Geschlechter an längst vergangene Zeiten erinnern.“

Auf dem oben abgebildeten Foto von 1936, aufgenommen oberhalb der Kirchgasse gegenüber des heutigen Sitzes der Firma Wilfert, erkennt man die Fichte (roter Pfeil) etwas unterhalb der Kirche und sieht, dass der Baum in jener Zeit schon eine beträchtliche Höhe hatte. Wann genau sie gepflanzt wurde, ist nicht überliefert.

Der von Söhngen gebrauchte Begriff der „Schutzfichte“ ist in der einschlägigen Literatur, z.B. bei Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin 1927, nicht belegbar. Inwiefern man in früheren Zeiten der Fichte unweit eines Hauses also einen Schutz vor Dämonen oder Hagelschaden zusprach, ist hier daher nicht nachweislich.

Durchaus nachvollziehbar mag allerdings der Gedanke sein, dass man einem solchen recht schnell wachsenden hohen Baum als „natürlichem Blitzableiter“ zurecht einen Schutz von Wohnhaus und Scheune zusprach, sofern der Baum die Höhe der Hofreite überstieg.

Der markante Baum in der Kirchgasse hielt auch Einzug in die Familienerzählungen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Den Kindern im benachbarten „Stühlersch-Haus“ wurde in den frühen 1950er Jahren erzählt, dass der Nikolaus von dem hohen Baum herabkommen würde, um seiner vorweihnachtlichen Tätigkeit nachzugehen. Und so haben die derart instruierten Kleinen Anfang Dezember stets ein besonders ehrfürchtiges Augenmerk auf die Wipfel des aus Kinderaugensicht riesigen Baumes gelegt. „Ob der Nikolaus wohl auch dieses Jahr wieder von da oben herabklettern wird?“„Was mag er wohl bringen?“, „Halt! War da nicht eben eine Bewegung im Wipfel zu erkennen?!“ – Gedanken, die durch die Köpfe der Kleinen gegangen sein mögen.

In den Wirkungszeiten des Lehrers Ludwig Lenz (1913-1976) wurde die Höhe des Baumes von den Schülern der benachbarten Volksschule mathematisch errechnet. „Die genaue Höhe weiß ich nicht mehr“, teilte mir der damalige Augenzeuge Walter Bietz mit. „Ich bin mir aber sicher, dass wir eine Höhe von über 30 Metern ermittelt hatten“.

Es muss wohl in den 1970er Jahren gewesen sein, als die „Schutzfichte“ tatsächlich die Hofreite des „Raue-Hauses“ vor einem Blitzschlag bewahrte, indem sie bei einem heftigen Gewitter selbst Ziel des Einschlages wurde.

Danach wurde sie dann gefällt und ihr Stamm im Sägewerk der Firma Seipp, Ettingshausen, zu Brettern und Balken verarbeitet. Nach dem verheerenden Scheunenbrand „bei Raue“ im Jahre 1980 wurden diese dann zur Errichtung einer neuen Scheune verwendet. Der Baum hat so über seine Existenz hinaus zum Erhalt des Anwesens in der Kirchgasse beitragen.

Soviel für heute,

Euer

Sven Schepp