Harbach historisch – Geschichte(n) rund um das Dorf

heute: „es Goatedierche“ – oder die Nachhaltigkeit der Kriegsgeneration
Liebe Leser, in diesen Tagen bin ich über den Begriff „upcycling“ gestolpert. Dieser Anglizismus entlehnt sich aus „up“ (= nach oben) und „recycling“ (= Wiederverwertung) und meint damit das Wiederverwenden und Umgestalten von Gegenständen, um dem „Wahnsinn der derzeitigen Wegwerfgesellschaft“ entgegenzutreten.
In einschlägigen online-Lexika kann man nachlesen, dass dieser Begriff ab etwa 1994 Einzug in die englische, später dann in die deutsche Sprache gefunden haben soll. Moderne extravagante Großstadtmenschen, neudeutsch „Hipster“ genannt, mögen das vor dem Hintergrund schwindender Ressourcen als moderne Schöpfung ansehen, vielleicht ein wenig ideologisch einfärben und als Erfindung ihrer Generation ansehen.
Das kreative Wiederverwenden gebrauchter Dinge, das sinnvolle Zweckentfremden von älteren Alltagsgegenständen ist aber zweifellos älter und wurde lange vor der Zeit durchgeführt, als unsere durchaus ausdrucksvolle Sprache durch den oben beschriebenen Anglizismus mehr oder weniger sinnvoll bereichert wurde.
Viele von Euch, die eine ältere Hofreite ihr eigen nennen dürfen, in der Jahre zuvor Menschen der Kriegsgeneration lebten, kennen das sicher: es wurde einfach alles aufgehoben, unglaubliche Dinge fanden oder finden sich in Haushalt und Scheune und vieles fand eine Wiederverwendung ums Haus herum.
„Doas schmeiße m’r earscht emual net fott, doas koann me vielleicht noch emual gebrauche“, höre ich als Kind der 1970er Jahre noch so manche Stimme der Altvorderen im Ohr klingen.
Lokale Kleingewerbe aber auch private Haushalte, gerade im ländlichen Umfeld, waren unglaublich erfindungsreich, als es darum ging, die Hinterlassenschaften des letzten Krieges einer neuen Verwendung zuzuführen: Ob Futtertröge aus Stahlhelmen, Siebe aus Gasmaskenfiltern, Kaffeekannen aus alten Gasmaskenbehältern und Panzerfäusten, Blusen aus Fallschirmseide, Kinderkleider aus karierter Wehrmachtsbettwäsche – die Liste der Kuriositäten würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Bisweilen füllen solche Gegenstände heute spannende museale Ausstellungen.
Das mannigfache Improvisieren, die kreativ-technischen oder geschickte handwerkliche Umgestaltung und zweckentfremdeten Wiederverwendung der Kriegs- oder unmittelbaren Nachkriegsgeneration verschwindet in unserer (scheinbar) perfektionistischen Wegwerf- und Überflussgesellschaft immer mehr aus unserem Alltagsbild.
Vielfach wird heute die reine Optik vor die Funktionalität und vor allem die Qualität einer Sache gestellt. Dem Reparieren (sofern bei „modernen“ Produkten überhaupt noch möglich) und Umbauen wird zudem heute zunehmend der Makel des Negativen angeheftet.
Das war gerade in der schweren Nachkriegszeit aus vielerlei Gründen, allen voran einer vorherrschenden Not heraus, anders. Es mag aber auch eine andere Einstellung der Menschen, die von Achtsamkeit, Bescheidenheit und Wertschätzung gegenüber den Gegenständen ihres Alltages und ihres räumlichen Umfeldes geprägt gewesen sein mag, vorgeherrscht haben.
Von einer kleinen Geschichte der zweckentfremdeten Wiederverwendung eines profanen und – zugegeben – nicht gerade ästhetischen Gegenstandes möchte ich heute erzählen. Es ist die Geschichte von einem Gartentürchen in der Kirchgasse, dem „Goatedierche“:
Nach all den Jahren, die ich das Anwesen meiner Großeltern nun kenne, habe ich erst bei der Übernahme der Hofreite das verrostete und zugegebenermaßen nicht gerade schöne Gartentürchen beim Hühnerhaus einmal bewusst angeschaut. Das Türchen besteht aus einem viereckigen, mit Maschendraht bespannten Metallrahmen und ist ca. 180x85cm groß. Es ist mit zwei angeschweißten Winkelbändern mittels Kloben an einem Gartenpfahl angeschlagen, hat eine Schließlasche und kann so als Tür verwendet werden. Stutzig machten mich allerdings die an den vier Ecken befindlichen Metallhaken? Was wurde denn hier verbaut? Was um Himmels Willen war das denn einmal gewesen?
Der Gegenstand wird uns noch verraten, was er einmal gewesen ist, doch blicken wir in unserer virtuellen Mottenkiste zunächst ein paar Jahre zurück:
In den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Amerikaner in Harbach, also nach dem 28. März 1945, war ein Machtvakuum entstanden, in denen sich weite Teile der Bevölkerung des Dorfes an den letzten Reserven und Überbleibseln des alten Regimes bedienten. So wurden der Flugplatz und auch die Schule (zum Kriegsende hin ein Materiallager der Luftwaffe) durchsucht und um die Dinge erleichtert, die die Bevölkerung in jenen schweren Zeiten des Mangels benötigen konnte. Geschirr, Bettwäsche, Werkzeuge, Baumaterialien und unzählige Dinge mehr fanden von nun an eine zivile Verwendung. Es heißt, manchen heimischen Kleinbetrieb soll das Material vom Flugplatz gar zum Start der eigenen Firma und Existenz verholfen haben.
Und so fand wohl ein Metallbett nebst ebensolchem Sprungrahmen, wie es damals von Soldaten und in ähnlicher Form auch in Krankenhäusern vielfach verwendet wurde, seinen Weg aufs Grundstück meiner Großeltern. Sicher hat es bei der bald folgenden behördlich angeordneten Einquartierung von Heimatvertriebenen im Haus wertvolle Dienste geleistet. – „Bingo!“, fährt es mir durch den Kopf. Das Gestell des Türchens war einmal ein metallener Sprungrahmen – und dazu einer mit Geschichte.
1871 begannen Louis und Carl Arnold im schwäbischen Schorndorf mit der Produktion von Gartenmöbeln, die schon ein Jahr später durch die Herstellung eiserner Bettgestelle erweitert wurde. Seit 1889 betrieb das Unternehmen ein zweites Werk in Stendal/Altmark, eine Schraubenfabrik wurde 1898 in Ernsbach/Württemberg sowie ein Werk in Kempen bei Krefeld eingerichtet. Die Erweiterung der Produktion um Eisenbetten war eine zukunftsweisende Entscheidung, die 1890 durch die Produktion von Stahlrohr- und Messingbetten konsequent weiterverfolgt wurde. Möbel aus Metall waren damals noch nicht – wie wenige Jahrzehnte später – modern, sondern sie waren einfach funktionell und zweckmäßig.
Die Firma L&C Arnold, die übrigens auch den klassischen, uns allen bekannten Biergartenstuhl erfand und in riesigen Stückzahlen produzierte, avancierte zu Europas größter Metallmöbelfabrik und hatte über 1400 Mitarbeiter. Sie bot in den 1920er Jahren bedeutenden Bauhaus-Designern und Architekten (z.B. Marcel Breuer und Mart Stam) die Möglichkeit, ihre Entwürfe umzusetzen und produzierte zudem die aus Aluminium bestehenden Möbel für das Luftschiff Graf Zeppelin, welches bei Lakehurst/USA so tragisch in Flammen aufging.
Neben dem zivilen Markt und der Ausstattung von Krankenhäusern wurde in den 1930er Jahren auch der militärische Markt mit Kasernenbetten beliefert.
Noch heute sind Metallmöbel von L&C Arnold Stendal Ikonen der Stilgeschichte und erzielen Premiumpreise.
In Vorkriegskatalogen, z.B. dem mir vorliegenden Metallmöbelkatalog von 1931, finden sich verschieden Varianten einer „Matratze mit Kettennetz und Zugfedern“ (natürlich patentiert) aus Metall, die in ihrer Größe und Ausführung unserem „Goatedierche“ entsprechen. Mit den an den vier Ecken befindlichen Haken wurde der Sprungrahmen an das Kopf- bzw. Fußteil angehängt. Dafür war diese Besonderheit also gedacht! Diese typische Form von Sprungrahmen für militärische Betten wurde von Arnold wohl die gesamten 1930er Jahre über gebaut.
Vermutlich aufgrund des ausgeleierten oder beschädigten Kettennetzes – der Sprungrahmen war wohl, wie viele von Euch nachvollziehen können, die schon einmal in einem Kasernenbett geschlafen haben und „wie gerädert“ aufgestanden sind, durchgelegen – wanderte der Rahmen Anfang der 1960er Jahren jedoch nicht etwa auf die Straße, wo ihn der „Lumpenmann“ abholte. Nein, weit gefehlt! Getreu der Maxime „Ei, doas eas doch noch gout, doas kann m’r noch für ebbes nomme“ schweißte man Kreuzbänder und Schließlasche an, heftete einen Maschendraht hinein und ließ das gute Stück fortan seine Tätigkeit als wetterfeste Gartentür verrichten.
Das war billig, schonte die knappen Ressourcen und diente einem neuen funktionellen Zweck. Zudem half einem vielleicht ein Nachbar oder Freund beim Schweißen, dem man dann seinerseits einen kleinen Gefallen schuldig war. Insofern wurde dadurch auch der soziale Zusammenhalt innerhalb der Dorfgemeinschaft gefördert. Nachbarschaftshilfe galt eben etwas. Dass das Türchen dabei optisch recht unästhetisch war, nahm man vielleicht mit den Gedanken „ach Gottche, schie easses nit, owwer‘s kost‘ naut iean‘s erfüllt soin Zweck“ in Kauf.
Wenn man sich das alles nun einmal überlegt: Kurios! Was kann mir da schon ein Neukauf aus dem Baumarkt erzählen, der in ein paar Jahren durchgerostet ist?
Inwiefern ich das Stück als Zeugnis der Nachkriegszeit einmal aufhebe oder nach einer kleinen Konservierungsarbeit weiterhin als „Goatedierche“ nutze, weiß ich noch nicht. Der „Lumpenmann“ wird bei seiner Fahrt durch die Straßen diesbezüglich leider umsonst klingeln. Von mir bekommt er das Türchen sicher nicht.
Gestattet mir abschließend doch eine Bitte: Solltet Ihr noch kuriose Zeugnisse einer zweckentfremdeten Wiederverwendung von historischen Alltagsgegenständen im Haushalt, rund um Euer Haus oder Hofreite haben, so wäre ich für einen Tipp und die Erlaubnis dankbar, dieselbe fotografieren und dokumentieren zu dürfen. Das mag vielleicht verrückt klingen, doch eines steht fest: Diese kreativ-praktischen Kuriositäten und Hinterlassenschaften der Nachkriegszeit, so primitiv sie auch sein mögen, sind in unserer heutigen perfektionistischen Wegwerfgesellschaft fast vollständig aus unserem Alltag verschwunden und werden künftig in Vergessenheit geraten. Ich freue mich schon auf Eure Rückmeldungen.
Vielen Dank und bis zum nächsten Mal,
Euer
Sven Schepp