Harbach historisch – Geschichte(n) rund um das Dorf

Harbach historisch – Geschichte(n) rund um das Dorf

heute: aus der „Russenzeit“ 1813/14

Liebe Leser, wenn wir für unsere heutige Ausgabe in unserer virtuellen Mottenkiste kramen, so müssen wir richtig tief hineinlangen, um dass, was in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg in Harbach als „Russenzeit“ bezeichnet wurde und lange Jahre als einschneidendes Ereignes angesehen wurde, etwas näher zu beleuchten.

Damals berichteten die Dorfältesten dem Dorflehrer Karl Söhngen (1902-1978) von den Erzählungen ihrer Groß- und Urgroßeltern über jenen denkwürdigen Winter 1813/14. Gottlob machte sich Söhngen Notizen davon, sonst wären diese Überlieferungen heute nicht mehr bekannt.

Im November 1813, aber auch im Frühjahr und Sommer 1814, waren tagelang russische Soldaten bei uns im Dorf und obgleich sie eigentlich damals mit den mit Hessen-Darmstadt verbündeten Preußen gegen Napoleon koalierten, führten sie sich offenbar auf wie in Feindesland. Einen Harbacher haben die Russen der Überlieferung nach gar mit gezogenem Säbel gesucht, doch dazu später mehr. 

Blicken wir zunächst auf den historischen Kontext: Napoleon Bonaparte hatte mit seiner „Grande Armée“ 1813 vor Moskau eine vernichtende Niederlage erlitten und zog sich gen Westen zurück. Preußen nutzte daraufhin die Gelegenheit, verbündete sich mit den Russen und erklärte Napoleon den Krieg. Immer mehr Länder, darunter auch Österreich und Sachsen, schlossen sich dieser Allianz an und es kam schließlich zur Völkerschlacht bei Leipzig (16.-19.10.1813), bei der Hessen-Darmstadt – und damit auch viele Söhne Oberhessens – noch auf der Seite der Franzosen kämpften. Doch unmittelbar nach der Niederlage in Leipzig wechselte auch das treue Hessen-Darmstadt als letztes Mitglied der ehemals pro-französischen Rheinbundstaaten die Seite und trat nun der Allianz gegen Napoleon bei.

Dieser zog mit seinen Truppen von Leipzig kommend westwärts und stieß über Erfurt, Eisenach, Fulda, das Kinzigtal, Hanau auf Mainz zu, um hier den Rhein zu überqueren. Mit etwa drei bis vier Tagesmärschen Abstand war ihm die sog. Böhmische Armee, die Hauptarmee der Alliierten auf den Fersen.

Der insgesamt rund 100.000 Mann starken Schlesischen Armee unter dem Befehl des legendären Feldmarschall Blücher fiel die ungeliebte Aufgabe zu, weiter nördlich, also von Eisenach kommend über den Vogelsberg und Mittelhessen gleichauf zu Napoleon gen Westen zu ziehen, um diesem einen möglichen Weg nach Norden zu verschließen. Ungeliebt war der Auftrag bei Blücher deshalb, weil es für ihn den beschwerlicheren Weg fernab der großen Heerwege über den Vogelsberg, durchs arme Oberhessen und den Taunus bedeutete, um in Richtung Rhein zu gelangen.

Der Vormarsch Blüchers von Fulda in Richtung Gießen ist sowohl in seinen erhaltenen Briefen jener Tage als auch in der zeitgenössischen Literatur leider nur schlecht dokumentiert. Dies mag daran liegen, dass die Schlesische Armee nach der Völkerschlacht von Leipzig drei Wochen lang unter strapaziösen Bedingungen gen Westen marschierte und täglich ein neues Nachtlager aufschlug.

Lediglich ein Chronist, Carl von Plotho, hielt fest, dass Blücher über Fulda, Lauterbach und im weiteren Verlauf über Grünberg nach Gießen gelangt sei, wo er am 03.11.1813 sein Hauptquartier aufschlug und seiner Armee drei Tage Rast befahl. Wo er selbst auf der Strecke Fulda-Gießen nächtigte, ist nicht belegt. 

Zur schlesischen Armee gehörten u.a. auch das Korps des russischen Generals Alexandre Langeron (im Dez. 1813 ca. 24.000 Mann) sowie das Korps des baltendeutschen Generals von Sacken (im Dez. 1813 ca. 26.500 Mann). Beide Korps bestanden ausschließlich aus russischen Truppen.

Das Korps von General Yorck von Wartenberg (im Dez. 1813 ca. 22.000 Mann) schlug am 03.11.1813 sein Hauptquartier in Hungen auf, was zur Folge hatte, dass es zu massiven Truppeneinquartierungen in Lich (Reserve-Kavallerie, Vordertruppen), Burkhardsfelden, Hattenrod, Ettingshausen (2. Brigade) und Laubach, Münster und Wetterfeld (7. Brigade) kam.

Auch in Harbach wurden Truppen einquartiert. Ob diese nun zum 1. Korps des Generals York oder einem der Korps von Langeron oder Sacken angehörten, lässt sich nicht mehr feststellen.

Ob es sich dabei um Verbündete oder Feinde handelte, spielte für die Landbevölkerung indes keine Rolle. Das Land nährt den Krieg – und die Soldaten nahmen sich, was sie benötigen. Was mussten die Bewohner Harbachs und der umliegenden Dörfer über sich ergehen lassen?

Aus damaliger Sicht war der so plötzlich hereingebrochene Durchzug dieses Heerwurms für die Bewohner der Dörfer katastrophal, denn der Winter 1813/14 stand bevor und sicher wurden viele der lebenswichtigen Vorräte von den Soldaten verzehrt. In den Befreiungskriegen, in denen die tägliche Marschleistung bei rund 20 Kilomietern lag, kantonierte eine Armee auf dem Marsch. Das bedeutete, dass die Soldaten abendlich in den Ortschaften ihrer Marschziele auf die einzelnen Häuser verteilt wurden, wobei die Kontingente nach der Anzahl der Feuerstellen im Ort berechnet wurden. Das ersparte den Auf- und Abbau von Zelten und erleichterte das Requirieren der Verpflegung.

Gerade die russischen Soldaten, insbesondere die berittenen Kosaken, sorgten für große Ängste, allein schon, weil man sich mit ihnen nicht schlecht verständigen konnte. Die Russen stammten aus dem gesamten Zarenreich: Russen, Baschkiren, Kalmücken, Tataren, Don-Kosaken und Angehörige anderer Ethnien mehr hatte es so nach Oberhessen gespült. Sie hatten z.T. ein fremdartiges, verwegenes Aussehen, ihre Bekleidung und Uniformierung war in heruntergekommenen Zustand und körperlich waren viele von den langen Märschen völlig erschöpft, ausgezehrt und litten bisweilen an Fleckfieber und Typhus, den sogenannten ‚Geißeln der Freiheitskriege‘. Bis dato unbekannte Krankheiten wurden durch die Truppenzüge der Befreiungskriege massiv verbreitet.

Ein Blick in das Sterberegister Harbachs verrät zwar von Oktober 1813 bis Dezember 1814 keine dramatischen Todesraten. Auffällig ist aber dennoch, dass im Januar 1814 gleich vier Männer im Alter zwischen 40 und 49 Jahren starben. Leider ist nur für Konrad Clös ist die Todesursache genannt: Nervenfieber, also Typhus. Ein Indiz dafür, dass Soldaten diese Krankheit auch in Harbach eingeschleppt haben könnten.

Belegt ist indes, das im Gießener Zeughaus, welches im November und Dezember 1813 zum Lazarett umfunktioniert war, zeitweise rund 2.600 Soldaten lagen, die überwiegend an Typhus erkrankt waren.   

In diesem Kontext setzen nun die Notizen von Lehrer Söhngen ein, die sich dieser nach Gesprächen mit den Dorfältesten, von denen er leider nur die Initialen, nicht aber die Namen der Hinweisgeber notierte, machte.

„Die Urgroßeltern des K.H. bekamen beim Durchzug einer russischen Heeresabteilung Einquartierung. Groß war die Not der verängstigen Bauersleute, da sie sich mit ihren Gästen nicht verständigen konnten. Die junge Frau wartete den bärtigen Kriegern mit diversen Eierpfannkuchen auf. Die Russen wußten jedoch das oberhessische Nationalgericht nicht zu würdigen. Einer von ihnen warf der Gastgeberin die Schüssel mit dem legeren Pfannkuchen an den Kopf. Der Hausherr war über diese Untat so erzürnt, dass er dem Übeltäter einige kräftige Ohrfeigen versetzte. Nur durch schnell Flucht entzog er sich der drohenden Strafe. Tagelang verbarg er sich im Bettenwald, der damals noch nicht so durchforstet war und viel Unterholz hatte.

Der Urgroßvater des Schmiedes W. sollte russische Pferde beschlagen. Da er die Arbeit nicht sofort in Angriff nahm, mißhandelten ihn die fremden Soldaten. Mit einem Hufeisen schlugen sie ihm angeblich den Brustkasten ein.

Der Urgroßvater des Landwirts H.S. schmiß einen Russen, als er im Oberstock seines Hauses einen verschlossenen Schrank aufbrechen wollte, die Treppe hinunter. Während der Mißhandelte Hilfe herbeiholte, verbarg sich der Bauer schnell im Heu. Eifrig durchsuchten die Russen das ganze Haus und die angrenzenden Wirtschaftsgebäude. Auch den Heustoß, in den sich der Bauer tief hineingewühlt hatte, übersahen sie nicht. Mit ihren Säbeln stachen sie mehrmals hinein, ohne allerdings den Verborgenen zu verletzen. Er hatte großes Glück und kam mit dem Schrecken davon. Wochenlang soll ihm allerdings das Erlebnis wie Blei in den Gliedern gelegen haben.

Eine russische Feldschmiede soll kurze Zeit hindurch in den Gärten hinter dem Anwesen der Witwe Frey gestanden haben.

Es wird erzählt, dass die Russen sehr scharf auf Honig [Zwetschgenhonig, d. Verf.] gewesen wären. Im ‚Heiligengarten‘ (hinter Stühlers Haus) hätten sie den Zwetschgenhonig aus großen Töpfen verspeist. Noch lange darnach hätten die leeren Gefäße achtlos herumgelegen.

Irgendwo in der Gemarkung soll sich ein Russengrab befinden. Über den Ort ist man sich nicht ganz klar. Manche Einwohner behaupten am Bettenwald, wieder andere am Nispelberg [Wo sich diese Örtlichkeit befinden soll, ist mir unklar, d. Verf.]. Man will wissen, daß ein Bruder des Verstorbenen der Beerdigung beigewohnt und fürchterlich geweint habe.

Der Urgroßvater des H.M. sollte mit seinen beiden Ochsen (Pferde gab es damals in Harbach sehr wenig) Spanndienste leisten. Man hatte ihn bis Bernsfeld verpflichtet. Dort entließ man ihn. Die Zugtiere gab man ihm nicht zurück. Sondern spannte sie vor die Geschütze. Niedergeschlagen kam der Geprellte zurück.“

Lehrer Söhngen, wagte neben der Niederschrift der heute in der Wissenschaft ‚oral history‘ genannten mündlichen Überlieferung der Dorfältesten aber auch den Blick in schriftliche Quellen und schrieb Gemeinderechnungen ab. Hierbei transkribierte er acht Rechnungen des Jahres 1814. Diese Abschriften sind heute umso wertvoller, da die originalen Harbacher Gemeinderechnungen der Jahre 1814-1817 verloren gingen und im Stadtarchiv Grünberg nicht mehr existent sind.

Wir lesen von finanziellen Forderungen, die Harbacher im Zeitraum von März bis September 1814 an ihre Gemeinde mit der Bitte um Begleichung stellten. Sollten da Russen nicht längst nach Westen gezogen sein?

Nach dem Pariser Frieden am 30.05.1814 waren die Befreiungskriege vorerst beendet. Die Armeen der Sieger zogen wieder in ihre Heimat zurück und nutzten dafür auch das Großherzogtum Hessen-Darmstadt als Transitland und hatten es dabei durchaus nicht eilig. Erst 1816 endeten die Truppendurchmärsche in Oberhessen.

Insofern ist es nachvollziehbar, dass Lehrer Söhngen in den Gemeinderechnungen des Jahres 1814 Dokumente fand, die in Zusammenhang mit russischen Soldaten stehen und die auf dem Rückmarsch der Soldaten entstanden. Werfen wir einen Blick auf die Dokumente:

So zahlte die Gemeinde Harbach im März 1814 an einen Hauptmann Bott (Grünberg) acht Gulden, damit dieser russische Offiziere mit Wein verköstigen konnte.

Dreißig Kreuzer erhielt ein Harbacher im Mai 1814 aus der Gemeindekasse für eine Henne, die er einem russischen Offizier habe aushändigen müssen.

Johann Georg Clös erhielt 44 Kreuzer für vier Mesten (Raummaß, d. Verf.) Hafer, die er im Juni 1814 russischen Kosaken abliefern musste. Auch Heinrich Müller musste in jenem Monat einen Zentner Heu abliefern und erhielt einen Gulden, 44 Kreuzer.

Johann Heinrich Stühler erhielt einen Gulden, 44 Kreuzer für fünf Ellen Schmaltuch, die er einem russischen Offizier im September 1814 aushändigen musste.

Soviel also aus einer Zeit, in der dereinst weltgeschichtliche Ereignisse einmal mehr auf unser kleines Dorf hereingebrochen waren,

Euer

Sven Schepp

Bildnachweis:

Kosaken in Wiesbaden, 1813/14
Kopie von Ippel nach einem Aquarell von Ph. Vigelius, 1813/14, 50,2 x 77,5 cm

Mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchives Wiesbaden

Quellen:

Bock: Alfred: Blücher in Gießen – Ein Stimmungsbild zu den Freiheitskriegen, Gießen 1907

Dreier, Bruno: Mit Blücher bei Kaub über den Rhein, Kaub 1993

Emmerich, Andreas: Jagd auf Napoleon im Gießener Land, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins (MOHG) 98 (2013)

Euler, Thomas: Eingespannt und ausgeplündert, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins (MOHG) 98 (2013)

Münch, Reinhard: Als die Hessen für Napoleon fochten, Leipzig 2018

Plotho, Carl von: Der Krieg in Deutschland und Frankreich 1813 und 1814, Berlin 1817

Sauer, W: Blüchers Übergang über den Rhein bei Caub, Wiesbaden 1892

Nachlass Karl Söhngen, unveröffentlichte Notizen, jetzt: Sammlung Schepp

Kirchenbücher der Ev. Kirchengemeinde Wirberg