Harbach historisch – Geschichte(n) rund um das Dorf

heute: Lehrer Söhngen und sein Opel-Fahrrad
In der heutigen Ausgabe lassen wir die sonst so gerne geöffnete Mottenkiste links liegen und begeben uns in den alten Schuppen, wo zwischen Spinnweben und Holzresten ein altes schwarzes Fahrrad lehnt. Der Gummi der platten Reifen ist längst rissig und spröde, Flugrost und Staub haben sich breit gemacht und der Sattel zerbröselt in unseren Händen. Jahrzehntelang ist niemand auf dem alten, mit Patina überzogenen Drahtesel gefahren.
Wir lassen unsere Gedanken schweifen: Wenn das alte Rad doch erzählen könnte! Wer waren seine Besitzer und in welcher Beziehung standen sie zu ihm? War das Fahrrad schlicht ein Alltagsgegenstand, der den Besitzer als Mittel zum Zweck täglich zur Arbeitsstätte brachte? Oder war das gute Stück der ganze Stolz des Velozipeden, das diesem dereinst bei Ausfahrten an Wochenenden den warmen Fahrtwind spüren ließ, ihm Zerstreuung und Freude bereitete? Wurden auf dem Rad gar kühne Reisen in deutsche Gaue unternommen?
Wir blicken doch noch einmal in die Mottenkiste und finden neben einem Foto des ehemaligen Harbacher Lehrers Karl Söhngen (1902-1978) mit seinem Fahrrad auch einen kleinen Zeitungsartikel, den der Pädagoge im Gießener Anzeiger vom 17. August 1951 publizierte. Er beschreibt darin seine persönliche Beziehung zu seinem damals bereits 25 Jahre alten Drahtesel der Marke Opel.
Wir rechnen und stellen fest, dass das Rad Söhngens 1926 in Rüsselsheim erbaut worden war. Die hessische Firma Opel, welche seit 1886 Fahrräder baute, war Mitte der 1920er Jahre zum größten Fahrradhersteller der Welt avanciert. Über 15.000 Händler vertrieben Fahrräder aus Rüsselsheim. Auf dem Höhepunkt der Fahrrad-Produktion und nach der Einführung des Fließbands Mitte der 1920er-Jahre verließ alle sieben Sekunden ein Fahrrad die Fertigung!
Als Marktführer verfügte Opel sogar über einen eigenen Rennstall und eine Werksmannschaft. Die Fahrer auf den gelb-schwarzen Rennrädern zählten zu den Favoriten aller großen Rennen. Auch der dreifache Tour de France-Sieger Philippe Thys aus Belgien setzte bei seinen Siegen auf Rennräder aus Rüsselsheim. Dennoch: die Zukunft bei Opel gehörte nicht den Fahrrädern, sondern dem Auto. Am 15. Februar 1937 lief das letzte Fahrrad vom Band. Ein Jahr vor dem 75-jährigen Unternehmensjubiläum und nach 2,6 Millionen gebauten Fahrrädern erfolgte mit dem Verkauf der Fahrrad-Fertigung an den deutschen Fahrrad- und Automobilhersteller NSU die Konzentration auf das Automobilgeschäft.
Lassen wir nun Karl Söhngen berichten:
„In unserer verkehrsreichen Zeit braucht jeder Mensch, der nicht gerade ein Stubenhocker ist, ein Fahrzeug, ob es sich nun um ein Veloziped, ein Motorrad oder einen Kleinwagen handelt. Ich gehöre zu jenen Mitteleuropäern, die sich mit einem Fahrrad begnügen. Nicht etwa aus angeborener Bescheidenheit, sondern aus finanziellen Gründen.
Zum knatternden Motorrad oder zur schnittigen Limousine hat es seither bei mir nie gelangt. Das ist schade! Wohin hätte ich als Motorsportler nicht schon fahren können! Wer weiß, vielleicht schlummert in mir sogar das Talent zum kühnen Rennfahrer? Mitunter bin ich geradezu versucht, diese Vermutung als bare Münze hinzunehmen, namentlich dann, wenn ich auf abschüssiger Straße durch die Landschaft sause. Weniger angenehm empfinde ich dagegen Steigungen und scharfe Kurven. Dann steige ich meistens ab.
Um so besser geht es nachher auf glatter Bahn. Jedenfalls ist es für mich ein Genuß, in die entferntesten Winkel vorzustoßen und lohnende Entdeckungsfahrten zu unternehmen. Holprige Feldwege, unübersichtliche Pfade und vergraste Waldschneisen werden mit derselben Unternehmungslust überwunden wie die verkehrsreichsten Straßen des Stadtkerns. Darin liegt gerade der Reiz und Vorteil der vielbelächelten Radfahrkunst.
Ein steht fest, mein Fahrrad und ich sind unzertrennlich. Zwar feiert der alte ‚Opel‘ in diesen Tagen sein 25jähriges Jubiläum, aber er erfüllt nach wie vor seinen Zweck. Unsere Freundschaft erfährt durch die zahlreichen Beulen und Kratzer keine Beeinträchtigung. Auch die spöttischen Bemerkungen meiner Freunde stören mich nicht. Mögen sie mein treues Stahlroß ruhig als alten Karren bezeichnen. Ich weiß ,was er mir wert war und ist.“
Das Opel Rad von Karl Söhngen ist heute leider nicht mehr existent. Es wurde mit seinem Tod und der Auflösung seines Haushaltes 1978 entsorgt. Schade, denn das Fahren und Beschäftigen mit einem Oldtimerrad hat einen besonderen Charme. Immerhin blieben uns ein Foto mit ihm und seinem Rad sowie der Zeitungsartikel von 1951 erhalten.
Angespornt von diesen Zeilen wächst unsere Vorfreude auf unseren ersten sonntäglichen Radausflug durch Oberhessen, zu dem wir bei den ersten warmen Sonnenstrahlen des kommenden Frühjahres starten werden. Ob mit einem neuen E-Bike, einem Tourenrad, dem Mountainbike oder einem liebevoll konservierten Radoldtimer: Wir werden uns wieder den Fahrtwind um die Nase wehen lassen, die Natur mit allen Sinnen genießen und die nur mit dem Fahrrad zu erfahrende Gelassenheit der Fortbewegung in einer hektischen Zeit neu entdecken.
Soviel für heute, Euer
Sven Schepp