Harbach historisch – Geschichte(n) rund um das Dorf

Harbach historisch – Geschichte(n) rund um das Dorf

heute: „Die Ruare Lisbeth“

In unserem heutigen Blick in eine Harbacher Mottenkiste möchte ich eine maschinenschriftliche Notiz des Lehrers Karl Söhngen etwa aus dem Jahre 1935 herauskramen, die ich in dessen Nachlass gefunden habe. Er beschreibt darin seine Nachbarin Elisabeth Seipp, geborene Wagner (1867-1951), deren Mutter eine geborene „Roth“ war, woraus dann der Dorfname „Ruare“ (hier darf man nach Herzenlust das „R“ rollen lassen) entstanden ist. Elisabeth Seipp lebte in „Seipps-Haus“ in der Kirchgasse 8, also dem Haus in welchem heute Stefanie Krausgrill wohnt.

Im Text offenbart sich das sensible Gespür, ja die Liebe Söhngens zu seinen Mitmenschen. Er verfällt nicht in schlichten Tratsch, eine pauschale Verurteilung oder üble Nachrede, sondern versucht in der Beschreibung der eigenwilligen, vom Schicksal hart getroffenen „Lisbeth“ auf die Gründe und die einzigartigen Besonderheiten ihrer Charakterzüge einzugehen.

Karl Söhngen nennt sie in seinem Aufsatz „Berb“ und schreibt ihr eine Tochter zu, offenbar da er sie für ein Zeitungsartikel anonymisieren wollte. Aus einer handschriftlichen Notiz ist aber zu entnehmen, dass es sich zweifelsohne um die im Dorf „Ruare Lisbeth“ oder schlicht „Lisbeth“ genannte Frau handelte.

Tatsächlich hatte sie einen Sohn, der 1897 geborene Heinrich Seipp. Jener heiratete im November 1924, wie wir auf dem Bildausschnitt oben erkennen können. Seine Mutter, die „Lisbeth“, sitzt rechts neben dem Bräutigam. Dessen Braut hieß übrigens auch Elisabeth. Um eine Verwechslung mit der „Lisbeth“ auszuschließen, wurde sie einer strikten Logik zur Folge im Dorf „Ruare Bette“ genannt. Ja, so hatte jede und jeder seinen einmaligen (Dorf-)Namen und es kam zu keinen Verwechselungen!

Doch lassen wir Karl Söhgen zur „Lisbeth“ selbst berichten:  

„Unter Originalen versteht man allgemein Menschen, die von Ihren Mitmenschen abstechen, sei es durch Ihr äußerliches Auftreten, durch absonderliche Gewohnheiten, auffällige Sprachweise, humoristische Veranlagung oder sonstige Dinge, die nun einmal nicht alltäglich sind. Die natürliche Folge davon ist, daß diese Menschen innerhalb Ihres Lebenskreises jedem bekannt sind und oft Ursache zu Gesprächen geben. Deshalb brauchen sie noch lange nicht verschroben, rückständig oder eigenbrötlerisch zu sein. Oft passen sie sogar infolge ihres gesunden Mutterwitzes besser in die Lebensgemeinschaft als diejenigen Menschen, die sich über sie lustig machen.

Jeder kennt schließlich solche Originale und weiß die eine oder andere Begebenheit von ihnen zu erzählen. Verfügen derartige Menschen über einen guten Schuß Humor, oder besitzen sie gar noch eine dichterische Ader, dann ist ihre Volkstümlichkeit unumstritten. Nicht immer sind es Männer, die man als Originale ansprechen kann. Auch unter den Frauen gibt es mitunter originelle Figuren.

Ein solches oberhessisches Original ist die „Berb“. Sie hat eine kleine, gedrungene Gestalt, die leicht nach vorne geneigt ist. Die Augen, von denen sich das eine nur halb zu öffnen vermag, sind etwas geschlitzt, die Lippen schmal und herb. Der Mund wirkt wie ein Messerschnitt in dem faltigen, verarbeiteten Gesicht.

Berb stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Der Vater war Müllerknecht und kümmerte sich kaum um seine Familienangehörigen. Den Lohn vertrank er, anstatt den hungernden Kindern Brot dafür zu kaufen. Nicht genug damit! Von Zeit zu Zeit kam er nach Hause und verlangte von seiner Frau Geld, das diese sich durch Botengänge oder Arbeiten im Taglohn mühselig verdient hatte. Wollte oder konnte die Bedauernswerte nichts abgeben, dann setzte es Schläge und Schimpfworte unter denen „Faulenzeresche“ und „Nautnutzerin“ noch die gelindesten waren. Kein Wunder, daß unter diesen Umständen Mutter und Kinder aufatmeten, wenn der Unhold das Haus verlassen hatte. Während die Mutter ihre Botengänge verrichtete oder bei den Bauern arbeitete, waren sich die Kinder selbst überlassen. Oft litten sie blauen Hunger und mußten notgedrungen betteln gehen.

Trotz dieser harten, entbehrungsreichen Jugendzeit verfügt Berb über einen unverwüstlichen Humor. Ihre häuslichen Verhältnisse sind heute war weit besser als früher, aber doch immer noch recht bescheiden. Trotzdem läßt sich die muntere Frau nicht unterkriegen und behält stets ihre frohe Laune.

Alljährlich schlachtet sie ein Schweinchen. Davon lebt nicht nur sie, sondern auch die bei ihr wohnende Familie ihrer einzigen Tochter. Daß dann im Laufe des Jahres die Fleisch- und Wurststücke sehr klein ausfallen, läßt sich leicht denken. Meistens sind zur Zeit der Heuernte die Vorräte restlos aufgebraucht. Zum Kauf frischen Fleisches fehlt das nötige Kleingeld. Das aber ficht die wackere Berb nicht an. Es geht auch so. Sie denkt sich, wie sie mir einmal erzählt, ein recht großes Stück Wurst dazu, und dann schmeckt ihr das Essen vorzüglich.

Meistens gibt es Kartoffeln und grünen Salat. Der wächst massenhaft in ihrem Gärtchen und bedarf keiner sonderlichen Pflege. Fragt man sie um diese Zeit, was es zum Mittag- oder Abendessen gegeben hat, dann antwortet sie scherzend: „Haur harre mir Seloat ean Ohne!“

Auf die Bücher und das Lernen ist sie nicht gut zu sprechen. Das kommt daher, weil sie in ihrer Schulzeit wenig Freude erlebt und öfters mit der Rute Bekanntschaft gemacht hat. Offen erklärt sie mir eines Tages „Met mir hat de Schullihrer oft sei Last. Ich woar oarg domm.“ Wen sie mich im Sommer mit einem Buch im Garten sitzen sieht, gibt sie mir den wohlgemeinten Rat: „Ach, lasse Sie doach däi schlächte Bicher. Do stieh joa doch laurer Lije drean.“

An einem schönen Sommer läuft ein Igel über den Schulhof. Ich suche den Stachelrock zu erhaschen, um am nächsten Morgen das verkannte Tierchen als Anschauungsobjekt zu benutzen. Aber bis ich aus der Wohnung herunterkomme, hat sich der Igel längst unter Hecken und Büschen in Sicherheit gebracht. Während ich noch suche, kommt die Berb dahergeschlappert. Ich erzähle ihr kurz den Vorfall. Sie hilft emsig suchen und fragt mich dann allen Ernstes: „Gälle, d‘r Ihl legt Äjer ean broit se dann aus?“ Nun muß ich einmal herzlich lachen, was mir aber die Fragerin nicht übel nimmt. Ich darf mir das schon bei ihr erlauben.

Ein andermal rupfe ich ein Hähnchen. Berb schaut zu und erkundigt sich eingehend nach der Verwertung und Zubereitung des Schlachtopfers. Plötzlich wird sie unruhig. Es fällt ihr nämlich ein, das sie daheim die Haustüre aufgelassen hat. Indem sie eilig davonläuft, ruft sie mir noch zu: „Ich muß emuel gucke, ob m‘r koaner ean Honnertmarkschoi gebrocht hot.“

Während der heißen Sommerzeit trägt sie einen schwarzen Strohhut, der einen mächtigen Rand besitzt. Sie bietet mit dieser eigenartigen Kopfbedeckung ein gelungenes Bild. Man denke sich die untersetzte, kleine Gestalt, den schwerfälligen Gang und den riesigen altmodischen Hut. Zum Schießen! Unsere Nachbarin fragt sie bei einer passenden Gelegenheit, was sie denn da für einen komischen Hut aufhabe. Da erwidert Berb schalkhaft: „Doas eas ean Wiärrerverdääler!“

Es hat lange nicht geregnet. Die Natur lechzt nach einem erfrischenden Guß. Aber der Regen bleibt aus, obwohl es in den umliegenden Ortschaften schon verschiedentlich Niederschläge gegeben hat. Berb ist das nicht weiter verwunderlich. Sie meint gelassen: „Wann so ronderim soat sei, kriehe m‘r aach Roa.“

Eines Morgens, der Vormittagsunterricht ist gerade beendet, begegnet sie mir im Dorfe. Sie hat einen Futtersack und eine Sichel unter den linken Arm geklemmt. Mit lächelnder Miene kommt sie auf mich zu. Ich merke ihr schon von weitem an, daß sie wieder etwas im Schilde führt. Nach der Begrüßung fragt sie mich spitzbübisch: „Woes maane Sie, Herr Lihrer, wu ich jetzt hiewill?“ – „Na, das ist nicht schwer zu erraten“, antworte ich ihr. „Sie wollen sicher einen Sack Futter holen?“ – „Ausgeschlosse“, entgegnet sie „ich siche den Kerl der die Ärwet ersonne hot. Wann ich’n kriehe, hack ich’m de Kopp oab.“

Nun könnte der Leser denken, Berb seine eine faule Person. Das ist aber nicht der Fall. Sie ist im Gegenteil sehr fleißig. Obwohl sie schon die Siebzig überschritten hat, schafft sie doch noch unermüdlich vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Kein Leseholztag verstreicht, an dem sie nicht schwere Holzlasten nach Hause schafft. Dazu benutzt sie nicht etwa einen Handwagen, nein, auf dem Kopfe schleppt sie die schweren Wollen aus dem Walde. Und dabei ist sie immer vergnügt und munter.

Ja, die schlichte Berb ist eine Lebenskünstlerin, von der wir manches lernen können. Sie, die spöttisch belächelt wird, besitzt ein kostbares Gut, was vielen Menschen fehlt: die Zufriedenheit.“

Mit dieser besonderen Anerkennung für seine einstige Nachbarin beschließt Karl Söhngen seine Zeilen, nicht ohne uns Leser heute ein wenig nachdenklich zu machen und vielleicht die vorhandene Aktualität seiner Schlussworte zu reflektieren.

Bis zum nächsten Mal,

Euer Sven Schepp