Harbach historisch – Geschichte(n) rund um das Dorf

Heute: Ein sozialer Überblick im Jahre 1935
Liebe Leser,
beim heutigen Blick in unsere Mottenkiste kramen wir einen Notizzettel aus dem Nachlass von Karl Söhngen, der vor dem 2. Weltkrieg als Lehrer in Harbach wirkte, heraus. Er unternahm 1935 einige sozial-statistische Umfragen im Ort durch und notierte seine Ergebnisse.
Sind auch einige Textpassagen in Bezug auf den sprachlichen Duktus vor dem Hintergrund des Entstehungszeitraumes zu betrachten, so offenbaren sich in den geschilderten Informationen doch interessante Details sowie Grundlagen für eine Analyse des sozialen Wandels innerhalb unseres Ortes.
„Im Jahre 1935 führte ich aus eigener Initiative einige Zählungen durch, die mich zwar sehr viel Zeit kosteten, dafür aber auch durch eine Fülle von interessantem Material entschädigten. Derartige Statistiken sind keineswegs sinnlose Spielereien, sondern sind unbedingt notwendig, wenn man sich einen umfassenden Überblick über die wirtschaftliche Struktur des Dorfes verschaffen will. Es würde zu weit führen, wenn ich das gesamte Material anführen wollte. Ich gebe nur einige Beispiele, die schlaglichtartig einen Einblick in das Wirtschaftsleben des Dorfes gewähren.
Am 23.11.1935 stellte ich eine Arbeiterstatistik auf. Das Dorf hatte damals 38 Arbeitsleute. Sie waren zum geringen Teil in Hattenrod (Keil), zum größten Teil in Grünberg (Schmidt, Repp, Allmendinger) und Gießen (Gail, Weimer, Bänninger, Heyligenstedt) beschäftigt. Durch die lange Arbeitslosenzeit hatten manche junge Leute keinen Beruf erlernt. Nur wenige holten das Versäumte nach, da sie inzwischen zu alt geworden waren. Einige von ihnen gelang es, sich als Facharbeiter in Maschinenfabriken unterzubringen. Sie hatten ein gutes und gesichertes Auskommen, während die Erd- und Waldarbeiter durchweg sehr schlecht bezahlt wurden.
Eine am 4.12.1935 durchgeführte Handwerkerzählung ergab: 4 Schreiner, 4 Schmiede, 2 Maurer, 6 Weißbinder, 3 Wagner, 1 Schneider, 4 Schumacher, 1 Schlosser, 1 Dreher. Von diesen 26 Handwerkern war nur ein geringer Teil im Dorf beschäftigt. Die verhältnismäßig hohe Zahl für ein Dörfchen von 430 Einwohnern ergab sich aus der Tatsache, daß im Betrieb des Inhabers vielfach noch der Sohn oder Schwiegersohn mitarbeitete. Die auswärts beschäftigten Handwerker gingen nicht selten dem Dorf verloren, da sie sich draußen verheirateten und dann das Geschäft des Schwiegervaters übernahmen oder selbst ein Geschäft gründeten. Dieser Verlust war mitunter recht schmerzlich für das Dorf. Harbach verlor auf diese Weise in den letzten Jahrzehnten wertvolle junge Menschen, die als unersetzliche Mitarbeiter bei der wirtschaftlichen Entwicklung des Dorfes fehlten. Ausschlaggebend war dabei der unerfreulich weite Weg zur Arbeitsstelle. Namentlich im Winter, wenn die Schneewehen sehr hoch lagen, waren die Arbeitsleute zu beklagen. Daß sich unter diesen Umständen strebsame junge Menschen nach anderen Wohnstätten umsahen, ist zu verstehen. Jeder sucht schließlich seine Lebenslage zu verbessern.
Es wanderten jedoch nicht nur eigenes Blut aus dem Dorfe ab, sondern drang auch fremdes in das Dorf ein. Das beweist meine diesbezügliche Aufstellung vom 29.11.1935. An diesem Tage waren seit dem Ende des 1. Weltkriegs 16 männliche und 19 weibliche verheiratete ortsfremde Personen zugezogen.
Die männlichen Personen stammten aus Hattenrod, Ettingshausen, Münster, Burkhardsfelden, Beuern, Bersrod, Lumda, Kesselbach, Rüddingshausen, Stangenrod, Leihgestern und Kirchgöns.
Die weiblichen Personen kamen aus folgenden Dörfern: Reiskirchen, Saasen, Lindenstruth, Bollnbach, Göbelnrod, Burkhardsfelden, Stangenrod, Lehnheim, Lauter, Ilsdorf, Annerod und Steinberg.
Das war immerhin eine erfreuliche Blutauffrischung, die für ein kleines, abgelegenes Dorf unbedingt erforderlich ist, wenn es nicht der Degeneration verfallen soll. Zu beachten ist, daß aber auch schon in den Jahrzehnten vor dem 1. Weltkrieg eine Zuwanderung erfolgte, wenn auch nicht in dem Maße wie nach der Beendigung des Krieges. Interessant ist nun, die Fäden zu verfolgen, die durch die verwandtschaftlichen Beziehungen der ortsfremden Einwohner in die nähere und weitere Umgebung laufen. Die durch Einheirat ins Dorf gekommenen Personen waren natürlich bestrebt, Landsleute in ihren neuen Wirkungsort nachzuziehen. Das taten sie schon aus gesellschaftlichen Gründen. Sie wollten Kameraden haben, mit denen sie sich ungehemmt aussprechen und mit denen sie Verkehr pflegen konnten. In dem neuen Wohnort fanden sie nicht immer sofort gleichgesinnte Freunde. Die Dörfler sind bei uns in Oberhessen mitunter sehr reserviert und lassen oft lange Zeit verstreichen, bis sie einen Zugezogenen als ebenbürtig in ihren Kreis aufnehmen. Diese Beobachtung habe ich schon in vielen Dörfern gemacht.
Am 19.11.1935 gab es in Harbach 80 Haushaltungen, damit also auch 80 Wohnungen. Die meisten Familien hatten ihr Eigenheim. Nur eine geringe Zahl wohnte auf Miete. Die Wohnungslage entsprach den ländlichen Verhältnissen und war durchaus befriedigend. In den meisten Häusern lebten alte und junge Leute einträchtig zusammen. Sie verrichteten gemeinsam ihre Arbeit und führten deshalb auch nur einen Haushalt. Die wenigen Mietwohnungen befanden sich zum Teil in den Gemeindehäusern, zum Teil in Neubauten oder freigewordenen alten Bauernhofreiten. Eine beträchtliche Zahl der Wohnhäuser war nach den Freiheitskriegen, nach dem Deutsch-Französischen Krieg, um die Jahrhundertwende und nach dem 1. Weltkrieg errichtet worden. Fördernd hat die Anlage der Oberhessischen Eisenbahn gewirkt. Durch sie wurde nicht nur der Verkehr der etwas abgelegenen Gegend belebt, sondern das Wirtschaftsleben erfuhr auch eine Bereicherung und Förderung. Vor allen Dingen war die Absatzlage günstiger geworden. […]
Mit der Häuserzählung führte ich zugleich eine Scheunenzählung durch. Die Aufstellung ergab 73 Stück, darunter 2 Feldscheunen.
Die große Mehrzahl befand sich in gutem Zustand. Sehr viele waren alte, aber trotzdem noch gut erhalten. Nur einige waren verfallen und reparaturbedürftig.
Die meisten Scheunen wurden im 19. Jahrhundert errichtet, vorwiegend in der ersten Hälfte. Das hängt zweifellost mit dem Aufschwung und den fortschrittlichen Bestrebungen innerhalb der Landwirtschaft zusammen. Sicherlich hatten die Bauherren auch vorher schon Räumlichkeiten, in denen sie Heu, Grummet und Stroh unterbrachten. Sie waren jedoch zu klein geworden und mußten größeren Wirtschaftsgebäuden weichen. Man brach sie entweder ab, oder stellte, wie z.B. der Landwirt Döring in der Kirchgasse, eine neue Scheune neben die alte. Eine vorbildliche Scheuneneinrichtung, wie man sie sonst nur in größeren Gutshöfen sieht, besitzt der Landwirt Karl Fritzel 2. Er ließ 1936 in dem Dachgeschoß seiner umfangreichen Scheune aus dicken Bohlen einen starken Boden anfertigen. Da der Grasgarten in gleicher Höhe des Oberstocks liegt, ließ sich ohne nennenswerte Kosten eine Anfahrt schaffen. Nun kann der Besitzer mit dem Erntewagen in den Oberstock fahren, was für ihn und seine Arbeitskräfte während der Erntezeit sehr dienlich ist. Denselben Zweck verfolgte auch der Landwirt Karl Stumpf, als er sich einige Jahre vor dem Krieg einen Höhenförderer in seiner Scheune anbringen ließ.
Auch die Pferdezählung brachte interessante Ergebnisse. Das Dorf hatte damals 44 männliche und weibliche Tiere. Manche hatten den Weltkrieg mitgemacht. Eine Stute war 30 Jahre alt, eine andere 24 Jahre.
Es überwogen die Namen: Hans, Max, Fuchs, Hektor, Rolf, Tell, Moritz, Franz, Rosa, Bella, Fanni, Lore, Liese, Wanda, Toni, Flora, Thekla.
Erfreulicherweise wendet man seit 10-15 Jahren der Pferdezucht und Pferdehaltung mehr Aufmerksamkeit zu. Es tat auch not, denn die Gespanne machten nicht immer den vorteilhaftesten Eindruck. Bahnbrechend wirkten auf diesem Gebiet einige Jungbauern, die erfolgreich die Landwirtschaftsschule in Grünberg besucht hatten und bei Überlandfahrten mit ihren Zugtieren Ehre einlegen wollten.“
Soviel für heute,
Euer Sven.
Foto: Kirmes in Harbach, 1935 (Privatbesitz)