Harbach historisch – Geschichte(n) rund um das Dorf

Harbach historisch – Geschichte(n) rund um das Dorf

Heute: „1864 erschossen“ – Schicksal eines Harbacher Auswanderers nach über 150 Jahren aufgeklärt

Teil 1

Liebe Leser,

für die hoffentlich geruhsame und entspannende Zeit der Weihnachtsfeiertage und der Zeit „zwischen den Jahren“ lade ich Euch beim Blick in unsere Mottenkiste zu einer besonderen Zeitreise ein. Im Zuge der Spurensuche zu einem Harbacher, dessen Nachfahren heute z.B. in den Familien von Timo R. (Forsthausstraße), Bernd S. (Ettingshäuser Str.) oder Willi J. (Hattenröder Str.) zu finden sind, werden wir uns über „den großen Teich“, also den Atlantik, in die USA der 1860er Jahre begeben.

Aufgrund des Umfanges des Artikels werde ich diesen in zwei aufeinander folgenden Teilen in unserer DorfApp publizieren. Ich darf Euch frohe Feiertage, einen guten Rutsch und viel Spaß beim Lesen wünschen.

***

Das alte Büttenpapier ist brüchig und vergilbt. Beim vorsichtigen Blättern spürt man zwischen Daumen und Zeigefinger noch feinste Partikel des Schreibsandes, der vor der Verwendung von Löschpapier zum Trocknen der Tinte verwendet wurde.

Wir blicken in ein altes Ortsbürgerregister aus dem Stadtarchiv Grünberg, welches der damalige Bürgermeister von Harbach im Jahre 1823 begann und das in der Folge etwa 50 Jahre lang von den jeweiligen Gemeindevorstehern fortgeschrieben wurde. Es enthält Namen, Geburtsjahre, Berufsbezeichnungen und hin und wieder eine Anmerkung zu der jeweiligen Person.

Alle Eintragungen wurden handschriftlich gefertigt und je nach Fertigkeit des Schreibers bedarf es etwas Mühe und Konzentration die alte deutsche Schrift zu lesen. Dennoch lässt uns das Dokument haptisch als auch inhaltlich in die Geschichte des Ortes eintauchen, mag es doch von Schicksalen einzelner Menschen erzählen, von denen wir uns eines genauer betrachten wollen.

Beim Lesen der einzelnen Zeilen bleiben wir bei der Anmerkung zum „Ackermann“ Johannes Jacob IV., geboren 1823, hängen. Hinter diesem Namen hatte der damalige Bürgermeister folgendes vermerkt: „Nachricht aus Amerika, dass er am 18. Mai 1864 am Gelben See erschossen wurde.“

Uns mag der Atem stocken und wir erkennen, dass sich in diesen knappen Zeilen ein menschliches Schicksal offenbart.

Was war damals geschehen? Können wir nach über 150 Jahren etwas über den Werdegang von Johannes Jacob herausfinden?

Mag die Wahrscheinlichkeit, bei dieser Spurensuche noch auf Erkenntnisse zu stoßen zunächst auch gering erscheinen, so wollen wir den „Fall Jacob“ ein wenig systematisch betrachten.

Unser erster Abschnitt der Spurensuche führt uns zu den Kirchenbüchern des Evangelischen Kirchspiels Wirberg, dem Harbach damals angehörte.

Den dortigen Eintragungen zufolge wurde Johannes Jacob IV. am 30.05.1823 als zweites von drei Kindern der Eheleute Christian und Barbara Jacob geboren und evangelisch getauft.

1848 heiratete er Anna Maria Münch (1825-1882) aus Harbach. Das Ehepaar hatte mit Johannes V. (1848), Elisabeth (1851) und Anna-Maria (1855) drei Kinder.

In den 1850er Jahren erreichte die deutsche Auswanderungswelle nach den Vereinigten Staaten mit rund 970.000 Emigranten eine bis dato nie dagewesene Anzahl. Die Gründe waren vielfältig, jedoch wog die schwierige wirtschaftliche Situation, hervorgerufen durch die Realteilung gepaart mit einer durch die napoleonischen Kriege hervorgerufen Steuerlast, sehr schwer.

Diese Welle spiegelte sich auch in unserer Gegend wider und so verwundert es nicht, dass Johannes Jacob wenige Jahre nach seinem Verwandten Heinrich Jacob aus Fernwald-Albach, der mit seiner Familie 1851 emigrierte, in die USA gelangte.

Der Grund für die Tatsache, dass Johannes Jacob wohl zwischen 1855 und 1860 ohne seine Frau und die drei Kinder nach Amerika aufbrach, ist heute nicht mehr belegbar. Vielleicht mochte er zunächst eine wirtschaftliche Grundlage legen, bevor er seine Familie nachholte? Womöglich stand die Ehe unter keinem guten Stern oder die Ehefrau pflegte Familienangehörige und konnte nicht auf die Reise? Immerhin lebten im genannten Zeitraum sowohl die Mutter als auch die Schwiegermutter als Witwen. Vielleicht war der Aufenthalt zunächst nur auf eine begrenzte Zeit festgelegt? Vieles wäre denkbar, doch ohne belegbare Hinweise Spekulation. Fest steht indes, dass sowohl die Ehefrau als auch ein Teil der Kinder zeitlebens in Harbach blieben und dort verstarben.

In den USA, genauer gesagt in Chicago (Illinois), können wir den Lebensfaden des Harbachers wieder aufnehmen. Zwar verschließt sich uns, welchem Beruf oder Tätigkeit er als Bewohner der Stadt nachging, doch ist sein Werdegang auf andere Weise dokumentiert: Zusammen mit einem John Jacob wurde Johannes Jacob am 30.12.1861 im Dienstgrad eines „Private“ (Schütze) in die Kompagnie „D“ des 58. Illinois Infanterie-Regiments gemustert. Die Tatsache, dass der genannte John nur fünf Tage danach beim gleichen Regiment anmusterte, mag darauf deuten, dass beide in einem verwandtschaftlichen Verhältnis gestanden haben könnten.

Über die Gründe, die Johann Jacob dazu bewogen haben mochten, freiwillig in den Militärdienst einzutreten, können wir nur mutmaßen. Hinweise dazu könnte der Brief eines Deutschen geben, der im Oktober 1861, also nur wenige Wochen vor Johann Jacobs Musterung in Chicago entstand:

„Nachdem wir die ganze Stadt [Chicago] durchwandert gelangten wir endlich an die Baraken der Soldaten. Ich wurde als Rekrut zum Frühstück mit Schweinebraten, Kaffee u. Brod traciert, und nachdem ich auf meinem Heuhaufen tüchtig ausgeschlafen, kam der Kapitain zu mir, gab mir die Hand und ließ mich auf freiem Felde schwören die Union gegen alle Ihre Feinde zu vertheidigen. Bei dem ganzen Schwur, den der Captain sprach hatte ich blos die Hand in die Höhe zu halten. Des Nachmittags exercierte ich, da es augenblicklich an Kleidern fehlte, in meinem schwarzen Mantel u. den Farmerstrohut. Der Lohn eines jeden gewöhnlichen Soldaten ist hier 13$ a month und nach 3 Jahren 100$ u. 160 Acker [acres] Land, die man sich aussuchen kann wo es einem gefällt. [Private Paul Petasch, geboren in Dresden, 27.10.1861.]“

Johann Jacob war also in den USA in unruhige Zeiten gelangt. Anfang 1861 hatten sich einige Südstaaten aus der Union gelöst und bildeten die Konföderierten Staaten von Amerika. Unter ihrem Präsident Jefferson Davis war es im Juli 1861 zur ersten größeren Kampfhandlungen gegen die Union unter Abraham Lincoln gekommen. Es sollte sich daraus der US-Bürgerkrieg (1861-65) entwickeln, gemessen an den Kriegstoten und der eingesetzten Waffentechnik, der erste „moderne Krieg“ der Neuzeit, welcher nach dem Sieg der Nordstaaten mit der Wiederherstellung der staatlichen Einheit der USA und mit der Befreiung der schwarzen Sklaven endete.

Fand auch der Schwerpunkt des Krieges im Osten, vor allem im Umfeld der Städte Washington und Richmond, am Potomac, dem Shenandoahtal und mit der herausragenden Schlacht von Gettysburg (1863) in Pennsylvania statt, so gab es auch einen westlichen Kriegsschauplatz.

Letzterer war vor allem durch den Kampf um die strategisch wichtigen großen Flüsse, allen voran dem Mississippi sowie dem Tennessee, Cumberland- und Ohio-River sowie die großen Städte des Südens (z.B. Nashville, Atlanta) geprägt. Auf ihn werden wir uns im zweiten Teil dieser Betrachtung des Werdegangs von Johann Jacob fokussieren.

Fortsetzung folgt,

Euer

Sven Schepp