Harbach historisch – Geschichte(n) rund um das Dorf

heute: Der Reiter auf Fellenbergs Dach
„Wenn der Hanns zur Schule ging,
Stets sein Blick am Himmel hing.
Nach den Dächern, Wolken, Schwalben
Schaut er aufwärts, allenthalben:
Vor die eignen Füße dicht,
Ja, da sah der Bursche nicht …“
Vielen von uns ist noch die in den einleitenden Worten zitierte Geschichte vom „Hanns-Guck-in-die-Luft bekannt“, welche der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann innerhalb seines Kinderbuches „Struwwelpeter“ erdachte.
Mit unserer heutigen Ausgabe lade ich Euch ein, auch einmal ich in solcher Manier durch unser Dorf zu spazieren, um einem Dach, genauer gesagt einem bemerkenswerten alten und mit einer Figur versehenen Dachziegel Eure wertschätzende Aufmerksamkeit zu schenken.
Figürliche Darstellungen auf Firstziegeln, „Dachreiter“ oder „Firstziegelfiguren“ genannt, haben in der europäischen Kulturgeschichte eine lange Tradition und sind schon in der griechischen und römischen Antike bekannt. Sie sollten das Haus schmücken oder vor Unheil schützen.
Gerade in unserer oberhessischen Heimat war die Tradition der Platzierung von tönernen Figuren auf den Firstziegeln bis ins beginnende 20. Jahrhundert weit verbreitet, wie nicht zuletzt A. Spamer in „Hessische Volkskunde“ (1939) in Wort und Bild berichtet.
So sind insbesondere in der Geschichte von Hungen-Langd mehrere Ziegler namentlich dokumentiert, die solche Reiter und Firstziegel im 19. Jahrhundert gestalteten. Auch in der Ziegelei von Treis/Lumda wurden vor weit über 100 Jahren gestaltete Dachreiter hergestellt.
Die ältesten heute noch erhaltenen Firstfiguren sind aus dem späten 17. Jahrhundert und werden in Museen oder Sammlungen aufbewahrt.
Als Motive fanden Figuren auf Pferden, Männchen mit Hut, Soldaten, Dämonen und Fratzen, Tier- und Pflanzendarstellungen Verwendung und waren je nach Talent und Ausführung des Zieglers mehr oder weniger ausdrucksstark und detailreich gefertigt. Manche der Figuren wurden auch mit einem Spruch, dem Namen des Zieglers oder einem Herstellungsjahr versehen.
Dämonen, Blitzschlag, Krankheiten, Hunger und Feuer waren für die Menschen der früheren Jahrhunderte eine ständige Bedrohung, die es galt mit Hilfe von Symbolen oder Handlungen abzuwehren. Das Dach war, wie Fenster, Türen oder Kamine auch ständigen Gefahren ausgesetzt und deshalb besonders vor bösen Einflüssen zu schützen.
Ob die Ziegler des 18. oder 19. Jahrhunderts bei der Gestaltung der Motive ihrer Dachreiter noch bewusst Schutzmotive erstellten oder diese in der Weiterführung des überlieferten volkstümlichen Bildungsschatzes erstellten, ist – ähnlich wie beim Kratzputz an den Fachwerkhäusern – aufgrund des Mangels schriftlicher Quellen kaum zu sagen. Insofern ist eine Deutung oder gar zweifelsfreie Enträtselung der Darstellungen schwer.
In der Zeit des Historismus, etwa ab 1880, kamen schließlich Adler, Pfeilspitzen und Pinienzapfen als damaliger Zeitgeschmack in Mode und die Figuren wurden lasiert oder sogar farblich gestaltet.
Aus heutiger Zeit stammen übrigens ein Feuerwehrmann und ein Schlafwandler, die Ihr auf Dächern in Harbach entdecken könnt.
Im Laufe der Jahre kamen viele der Figuren gerade bei der Dacherneuerung abhanden oder wurden zerstört. In den 1930er und 1950er Jahren, als die Dorfjugend noch legalerweise Kleinkalibergewehre (landläufig „Flobert“ genannt) besitzen durfte, waren die Figuren auch ein willkommenes Ziel für junge übermütige Scharfschützen.
Obwohl nun die ehemalige Scheune der Familie Fellenberg in der Forsthausstraße (einst Hofreite der Familie Stumpf) vor Jahrzehnten neu eingedeckt wurde, wurde der alte Firstreiter wieder auf einen alten Platz an der Firstkante gegenüber des Wohnhauses gesetzt und festzementiert.
Aufgrund seines Sitzes auf dem First war es nicht ganz einfach, den Reiter einmal von allen Seiten für Euch betrachten zu können. Doch halft mir hier dankenswerter Weise Wolfgang Allmang, der nach freundlicher Zustimmung der Familie Fellenberg mit der nötigen Technik den Reiter auf Firsthöhe von verschiedenen Seiten fotografierte.
Der Firstziegel besteht aus einer männlichen Figur auf einem Pferd. Sie ist mit einer markanten militärischen Schirmmütze, einem sogenannten Tschako mit Federbusch, wie er ab 1807 in der französischen und 1808 in der preußischen Armee getragen wurde, versehen. Die Uniform selbst wird durch Schulterklappen („Epauletten“) und markanten Knöpfen angedeutet. Hinter dem Sattel befindet sich eine zusammengerollte Decke, die den militärischen Charakter der Figur unterstreichen mag.
Das Pferd selbst ist leicht beschädigt, es fehlt ihm ein Ohr und Teile des Schweifes. Auf dem Sockel sind leider keine Schriftzeichen oder eine Jahreszahl angebracht.
Das Gebilde vor dem Reiter war mit ziemlicher Sicherheit die Figur eines weiteren Soldaten mit markanten Epauletten, der seine Arme kraftvoll in die Hüfte stemmt. Er wurde im Laufe der Jahre leider seines Kopfes verlustig, so dass wir heute nur noch einen Torso erkennen.
In der Familienüberlieferung wird der Torso als „Bierkrug mit Henkel“ interpretiert, so dass die Dachreiter bei Fellenbergs als „Biermännchen“ bezeichnet wird.
Figuren mit Bierkrügen sind in der Geschichte allerdings nicht gefertigt worden, so dass hier von einer kreativen familieninternen Interpretation gesprochen werden muss.
Der Fertigungszeitraum dürfte mit relativer Gewissheit aufgrund der markanten Form des Tschakos auf den Beginn des 19. Jahrhunderts festzulegen sein. Die Figur könnte durchaus unter dem Eindruck der Befreiungskriege, die ja durch den Durchzug preußischer und vor allem russischer Truppen 1813/14 auch in unserem Dorf massiv zu spüren waren, gefertigt worden sein. Näheres zu diesem Hintergrund habe ich in der DorfApp in meinen Ausführungen zur „Russenzeit 1813/14“ gemacht.
Gute 200 Jahre schaut der Reiter also von seiner Position auf die Dinge in unserem Dorf herab und hat sicher jeden von Euch schon einmal von oben betrachtet. Wenn er doch erzählen könnte!
Bei Radtouren durch Hattenrod, Langd, Lumda und Ober-Bessingen konnte ich ebenfalls sehr alte Dachreiter entdecken, die aber figürlich deutlich schlichter und weniger aufwendig gearbeitet sind, als der Reiter in unserem Dorf. Auch sie dürfen als absolute Seltenheit und nahezu vergessene Relikte heimischer Volkskunst angesehen werden.
Mag unser Reiter in Harbach vor allen Unbilden der Natur und menschlichem Frevel verschont sein und noch möglichst lange seinen Blick über die Dächer unseres Dorfs schweifen lassen. Euch wünsche viel Spaß beim Entdecken und Betrachten der Figur!
Soviel für heute,
Euer
Sven.
Literaturhinweis:
Rainer Scherb: Feierabendziegel aus Nordhessen, Neuental-Gilsa, 2010